Sind wir nicht alle divers?
Neulich in illustrer Weinrunde, bei einem hitzigen Gespräch über die Aktualität des Kampfes um Frauenrechte unterlief einem feministisch besonders engagierten Mann ein bemerkenswerter lapsus linguus. Er sagte: „Ich habe ja auch zwei Töchterinnen.“ Wir brachen in schallendes Gelächter aus, er korrigierte sich sofort und die Unterhaltung ging weiter. Für einen Sprachwissenschaftler sind solche Versprecher hoch interessant, denn sie markieren den Moment, in dem eine sprachliche Neuerung (hier das konsequente Versehen jedes Wortes mit weiblichem Sexus auf -er mit der Endung -in) beginnt produktiv zu werden. Das heißt, die Sprecher beginnen, unbewusst Wörter unter Anwendung der Neuerung zu bilden. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass der feministisch motivierte Versuch eine Gleichstellung der Geschlechter über präventiv verpflichtende Veränderungen im Sprachgebrauch voranzutreiben und auf diesem Wege in das Bewusstsein der Gesellschaft einzudringen, nicht nur regelmäßig aus einer Vielzahl von praktischen Gründen scheitert – er ist sogar kontraproduktiv für das angestrebte Ziel, wie man an unserem schallenden Gelächter sehen kann. Wenn die gewählte Strategie der Gegenwart in eine Sackgasse wie in unserem Beispiel führt, lohnt sich manchmal ein Schritt zurück und ein Blick in die Entstehung dieses dead ends.
Der Denkfehler, dem die sprachliche Genderdebatte aufgesessen ist, besteht in der Annahme, dass es im Deutschen maskuline, feminine und neutrale Wortformen gibt, die entsprechend maskuline, feminine und neutrale Dinge oder Personen bezeichnen. In der Sprachwissenschaft spricht man von der Kongruenz zwischen Sexus und Genus, wobei Sexus eine semantische und Genus eine grammatikalische Kategorie ist. Die Annahme der Regelmäßigkeit einer solchen Kongruenz ist schlichtweg falsch (Bsp. das Weib, die Giraffe, der Aktenvernichter). Einer der Folgefehler aus dieser Annahme ist zum Beispiel die Schlussfolgerung, dass die Endung -er maskulin ist. Dass dem nicht so ist, kann man sehr schön an der Herleitung der Worte für Vater und Mutter sehen.
nhd. Mutt-er (fem.)
< ahd. muot-er < urgerm. *mōd-er < frühurgerm. *maþ-ér < idg. *meh2t-ér
(diejenige die säugt)
nhd. Vat-er (masc.)
< ahd. fat-er < urgerm. *pad-er < frühurgerm. *paþ-ér < idg. *ph2t-ér
(derjenige der beschützt)
Beide Substantive sind sogenannte nomina agentis. Sie sind aus Ableitungen eines Verbalstammes unter Zusatz des Tätersuffix -er entstanden. Dieses Suffix ist weder maskulin noch feminin. Es ist folglich commun/geschlechtslos/unbestimmt und kennzeichnet lediglich eine Handlungsfähigkeit. Seit mehr als 5000 Jahren ist es in dieser communen Form produktiv. Um ein nomen agentis als explizit weiblich zu markieren, benutzte das Indogermanische das Motionssuffix *-ih2 > nhd. -in. Es erzeugt eine ausschließlich weibliche Variante aus der Communiaform, wenn das natürliche Geschlecht des nomen agentis für den Informationsgehalt der Aussage relevant ist. Sobald dieser Kontrast etabliert ist, erscheint die Communiaform als maskulin – jedoch ausschließlich in diesem Kontext. Alleinstehend bleibt sie geschlechtslos.
Auch die Annahme einer durch das Patriarchat männlich dominierten Sprache, in der Frauen nicht vorkommen, beruht auf diesem Zirkelschluss. Abgesehen davon, dass auch damals schon Frauen gern sprachen, untereinander, übereinander und sicherlich auch mit ihren Männern, kannte das Indogermanische weder ein männliches noch ein weibliches Geschlecht. Es unterschied vielmehr zwischen communia und neutra (lat. „keins von beiden“).
Eine konsequente Etablierung dieses Kontrastes hätte die Auflösung der communia zur Folge. Die Endung -er müsste als maskulin erklärt werden, um das feminine Pendant -in gleichberechtigt danebenstellen zu können. In der Praxis würde die Tochter dann „Töchtin“ heißen. Ein künstlicher Eingriff dieser Größe in den Sprachgebrauch wäre nur diktatorisch unter Androhung strafender Konsequenz durchführbar. Selbst dann würde er uns vermutlich eher sprachlos zurücklassen, denn die Auswirkungen auf das gesamte Sprachsystem (z.B. auf das Artikelsystem, das generische Femininum oder auf Wortzusammensetzungen) können kaum überblickt werden. Queere Geschlechtsidentitäten werden in dieser dystopischen Architektur im übrigen gar nicht berücksichtigt. Tatsächlich würden diese sich zurecht nicht mitgemeint fühlen.
Auch die Unsichtbarmachung des Geschlechts ist nicht konsequent durchführbar. Oft wird hier zum genderneutralen Formulieren der Plural oder das Gerundium vorgeschlagen. Das Ausweichen auf andere grammatikalische Kategorien bringt jedoch auch eine Sinnänderung der beabsichtigten Aussage mit sich, die wir zu Gunsten eines politisch motivierten Ziels in Kauf nehmen müssten. Man kann nicht immer auf den Plural ausweichen, wenn man Singular meint und das Gerundium trägt die Information einer sich in diesem Moment abspielenden unvollendeten Handlung in sich. Schläfer sind eben etwas anderes als Schlafende. Und wenn der Bäcker Feierabend hat, möchte er vielleicht kein Backender mehr sein.
Dogmatische Eingriffe dieser Art stoßen auf Ablehnung in allen Teilen der Bevölkerung, die ihre sprachlichen Inhalte auf Kosten des politischen Begehrens einiger weniger nur noch als zweitrangig wahrgenommen fühlen. Es führt zu Reaktanz und vor allem zu einer Projektion dieser spachlichen Absurdität auf wirklich wichtige Themen im Kampf um Frauenrechte, die kategorisch gleich mit abgelehnt werden.
Auch am 70. Geburtstag des Grundgesetzes, welches in Artikel 3 Absatz 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ festschreibt, sind wir von diesem als Tatsache aufgeschriebenen Satz ebensoweit entfernt wie von einer einheitlichen Vorstellung feministischer Werte. Während in Mainz der 3. Internationale Kongress gegen Prostitution stattfand, auf dem 87 internationale Anti-Prostitutions-Organisationen an die deutsche Politk appellierten umzudenken und Sexkauf unter Strafe zu stellen, verteidigen weibliche „Sexarbeiter“ ihr Recht auf Ausübung ihres freiwillig gewählten „Berufes“. Während im Iran unter dem Hashtag #mystealthyfreedom Frauen sich selbstbewusst und unter der Gefahr hart bestraft zu werden ohne Kopftuch präsentieren, kämpft in Deutschland eine Konvertitin für ihr Recht auf Vollverschleierung in der Universität. Sie alle kämpfen darum, dass ihre individuellen subjektiven Bedürfnisse gesehen werden. Für alle Frauen sprechen können sie nicht.
Die Mehrheit lehnt eine gegenderte Sprache ab. Die tatsächliche Sensation des sich-nicht-mitgemeint-Fühlens bei der alltäglichen Verwendung einer einfachen Communiaform betrifft nachweislich eine Minderheit. Die Ursachen dafür sind folglich individuell in dieser und nicht in der Gesamtheit aller Frauen zu suchen. Wenn diese Minderheit sich entschließt, eine gegenderte Sprache zu benutzen, kann sie sicherlich die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen. Sie könnte Werbung für ihre Sache machen und Diskussionen anstoßen. Mit dem Aufzwingen dieses Stils sorgen sie für Ablehnung.
Wenn Arbeitgeber heute eine Anzeige schalten, müssen sie hinter die Stellenbezeichnung „männlich/weiblich/divers“ setzen. Dabei würde „divers“ allein männliche und weibliche Bewerber einschließen. Wir sind nicht mehr nur die Frauen, die Männer. Wir sind Individuen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten auf unterschiedlichen Ebenen mit individuellen Orientierungen. Diese sind in manchen Kontexten, wie der Partnerwahl, durchaus relevant, in anderen, wie zum Beispiel der Arbeit sollten sie es möglichst nicht sein.
Das Bedürfnis nach „gendergerechter“ Sprache entstand ursprünglich aus dem Eindruck, Frauen seien auch in der Sprache benachteiligt. Diese „Benachteiligung“ wird aber durch die forcierten Beidnennungen erst realisiert, ins Licht gerückt und manifestiert. Dabei empfinden gar nicht alle Frauen diese angebliche sprachliche Benachteiligung. Viele fühlen sich bei den Communia gar nicht nur „mitgemeint“ sondern einfach gemeint. Das konsequente Gendern postuliert nun eine sprachliche Benachteiligung der Frau in allen Lebenslagen und lenkt den Blick auf dieses vermeintliche Opferdasein, weg vom eigentlichen Inhalt der Aussage. Damit fokussiert es unsere Sprache auf das biologische Geschlecht auch in Situationen, in denen dieses nicht relevant ist und erhärtet so den Opfer-Tätergedanken, während es uns als Menschen in Geschlechter zerfallen lässt. Was tut denn ihr biologisches Geschlecht zur Sache, wenn eine Frau als Wähler an die Wahlurne tritt, als Gast in ein Restaurant einkehrt oder als Kunde eine Beschwerde formuliert? Sie gehört doch ebenso wie ein Mann zur Gruppe der Wähler, der Gäste, der Kunden und nicht nur zu deren weiblicher Abspaltung.
In den meisten Alltagssituationen sind wir vor allem Mensch. Unser Geschlecht spielt keine Rolle. Für den Fall, dass eine Abgrenzung des Geschlechts semantisch notwendig wird, finden sich situativ verschiedene Möglichkeiten wie das Suffix -in oder die Voranstellung des Adjektives weiblich.
Anstatt mit Sprachvorschriften einen Amtsschimmel von hinten aufzuzäumen, sollten wir das wirkliche Übel an der Wurzel packen und die Veränderung des bestehenden Ungleichgewichtes zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Kinderbetreuung, Karriere, Lohn und Altersvorsorge politisch in unseren Fokus rücken. Aktuell arbeiten Frauen pro Woche neun Stunden mehr in Kinderbetreuung und Haushalt als Männer. In einem Jahr sind das drei ganze Monate mehr Vollzeit, zwingend notwendig für die Gesellschaft und unbezahlt – zu Lasten der Frauen. Neben den sogenannten typischen Frauenberufen (benevolenter Sexismus) ist das das Kernthema der Gender Pay Gap. Wir müssen die automatische Verknüpfung des biologischen Geschlechts mit Versorger- oder Betreuerrolle nach traditionellem Rollenverständnis lösen, welches den Mann ökonomisch bevorteiligt und die Frau in Abhängigkeit, Überforderung und Altersarmut drängt.
Der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist kein reines Frauenthema, er ist ein Familienthema. Frauen sollten das Recht haben, Mutter zu sein, ohne dafür am Arbeitsplatz oder in der Altersvorsorge benachteiligt zu werden. Die nordischen Länder, allen voran Island haben diesbezüglich bereits große Erfolge erzielt.
Wir müssen uns darauf konzentrieren, die Gleichstellung von Frauen voranzutreiben, indem wir Frauen und Männer für die jeweils unausgewogenen Bereiche aktiv suchen, fördern und ermutigen. Die ökonomische Gleichstellung der Geschlechter ist unsere gemeinsame Aufgabe. Auch sprachlich macht es mehr Sinn, dass wir uns auf Gemeinsamkeiten konzentrieren und weniger auf Unterschieden beharren. Wenn sich die Communia inhaltlich mit Weiblichkeit füllen, können wir das Vertrauen haben, dass die Sprache der veränderten Realität eines Tages folgt. Wie – das wird sich zeigen. Nur eins ist sicher: „Töchterin“ wird dabei nicht herauskommen.
Jana Schleske