Das Wandern ist des Ms Lust
Meine Leidenschaft für das Fernwandern entdeckte ich, als ich vor einigen Jahren den Eindruck hatte, mich im Leben mal wieder so richtig verlaufen zu haben. Ich wusste nicht mehr wohin mit mir. Ein guter Freund schlug vor: Wir gehen wandern. Den Rennsteig in Thüringen. Das hat einen Anfang und ein Ende, wir machen Sport, sind an der frischen Luft und haben Zeit, unterwegs Probleme zu wälzen. Ich steckte zu diesem Zeitpunkt regelrecht fest in meinem Drama und hätte zu allem ja gesagt. So zogen wir los. Völlig ungeübt. Mit 11 kg Gepäck auf dem Rücken transformierte ich in sechs Tagen und 180 Kilometern seelischen Schmerz in körperlichen. Erschöpft aber glücklich erreichten wir unser Ziel und waren uns einig, Wandern macht Spaß, sortiert den Kopf und hat unsere langjährige Freundschaft nochmals vertieft.
Auf dem Rennsteig war mir mehrfach die Markierung einer gelben Muschel auf blauem Grund begegnet. Am Tag nach unserer Rückkehr kaufte ich zwei Bücher – eines über den klassischen Jakobsweg und eines über den Jakobsweg in Brandenburg. Bis dahin dachte ich, der Jakobsweg führt nur durch Spanien. Aber natürlich sind die Pilger damals direkt vor ihrer Haustür aufgebrochen und so erstreckt sich ein Netz von Jakobswegen durch ganz Europa, die sich letztendlich in dem einen vereinigen, der die Pilger aus aller Herren Länder nach Santiago de Compostela bringt. Ich wollte das auch.
Wenig später lief ich wieder los. Mein Vorhaben fand seinen Ausgangspunkt an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt/Oder. Da ich in Berlin wohne, war es mir so möglich, auf kleinen Tagestouren sicher Ausdauer und Orientierung zu trainieren. Ich plante meine Strecke so, dass ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln an- und abends abreisen konnte. Nach und nach optimierte ich meine Ausrüstung und lernte, meine Strecken logistisch sorgfältig vorzubereiten. Dazu gehören Übernachtungsmöglichkeiten, regelmäßige Aufnahme von Proviant und Wasser, eine Exitstrategie an jedem Punkt der Tour sowie eine logistisch günstige Planung der Ruhetage im Idealfall noch mit Kultur.
Seit nunmehr sieben Jahren laufe ich drei bis fünf Wochen im Jahr Richtung Santiago de Compostela und beginne jedes Mal nahtlos dort, wo ich im letzten Jahr aufgehört hatte. Inzwischen habe ich ganz Deutschland und auch Frankreich zu Fuß durchquert. Gleich dem Lebensweg gehe ich einen Teil der Strecke allein, auf manchen Abschnitten begleiten mich Freunde, die dazu an- und nach einigen Tagen Wanderung wieder abreisen. Gespräche entwickeln sich auf einer Wanderung anders als im heimischen Sessel. Das gleiche Ziel schafft eine Verbindung miteinander und die gemeinsam zurückgelegten Schritte verbinden lückenlos den Raum zwischen Beginn und Ende der Wanderung. Während ich so durch die Natur schreite, empfinde ich meinen Körper als Verbindung zwischen Himmel und Erde und habe das Gefühl, mit den Füßen die Erde unter mir zu bewegen und mit dem Geist den Himmel.
Neue Orte und Erlebnisse öffnen unseren Blick und unseren Geist für neue Ideen. In unserem leistungsorientierten Alltag fällt es uns oft schwer, abzuschalten, uns zu erholen, einfach mal nichts zu tun, um den Gedanken freien Lauf zu lassen. Wandern kommt der Untätigkeit am nächsten und entwirrt dabei auf angenehme Art die Gedanken. Zu Beginn einer Tour laufe ich sehr schnell. Ich fliehe regelrecht vor dem Alltag und wie meine Füße über den Boden, rasen meine Gedanken durch mein Hirn. Das Wandern zwingt mich körperlich ins Hier und Jetzt. Täglich mache ich die Erfahrung, mir selbst genug zu sein. Auf mich allein angewiesen, plane ich eine Strecke und erreiche mein Ziel. Egal welche Widrigkeiten mir unterwegs begegnen, ich bin in der Lage, sie mit eigenem Körper und Geist zu beherrschen. Nach wenigen Tagen beruhigen sich meine Schritte in gleichem Maße wie meine Gedanken. Der Kopf wird durch den Körper geerdet. Nach meinem Körper kommt nun auch mein Geist auf dem Weg an und ich nehme die Natur und die Umgebung um mich herum intensiv wahr und werde ein Teil von ihr. Meine Tage sind ab sofort eingerahmt in zwei Termine: Sonnenaufgang und Einbruch der Dunkelheit. Dazwischen ein Weg, ein Plan – der am frühen Nachmittag oft verworfen werden muss – ein neuer Plan und jeden Abend bei Ankunft ein Erfolg. Auch wenn ich im Alltag eher eine Nachteule bin, hier komme ich bereits nach wenigen Tagen in diesen natürlichen Rhythmus. Kurz vor Sonnenaufgang wache ich auf und baue mein Zelt ab. Wenn ich früh genug aufbreche, liegt über den Wiesen noch Nebel. Das Wandern bringt uns nicht nur in die Natur, es führt uns auch zurück in unsere ganz eigene. Das Wort ‚wandern‘ ist eine Iterativbildung zu ahd. ‚wantōn‘ und bedeutet ‚sich immer wieder winden‘. Auch das Wort ‚Wunder‘ ist eng verwandt. Und tatsächlich habe ich auf dem Weg das Gefühl, mich mit den Füßen ‚durch die Landschaft zu winden‘ während mein Geist in den tiefsten Windungen meines Hirns längst vergessengeglaubte Erinnerungen findet, neu in Szene setzt und verarbeitet. Auch in dem Wort ‚Vergangenheit‘ finden wir diese Metapher, die uns gleichzeitig vom Gehen auf das Wissen verweist. Wenn wir ein Thema aufmerksam durchgegangen sind, erkennen und wissen wir.
Nach und nach habe ich meine Ausrüstung auf ultra light optimiert. In Vorbereitung auf meine Tour wiege jedes Teil ab und liste sein Gewicht in einer Exceltabelle auf, die mir gnadenlos das Gesamtgewicht vor Augen führt. Inzwischen bin ich bei 9,6 kg inklusive Zeltausrüstung angekommen. Jeder Gegenstand hat möglichst viele Gebrauchsmöglichkeiten. So dient meine Regenkleidung in ein Handtuch gewickelt gleichzeitig als Kopfkissen. Mein Schlafshirt, trage ich am nächsten Tag auf der Tour, während das zweite, frisch gewaschene außen am Rucksack trocknet. Jeden Abend nachdem ich mein Nachtlager aufgeschlagen habe, wasche ich meine Kleidung und plane den nächsten Tag konkret. Strecke und Tagesziel müssen aufmerksam betrachtet werden, um nicht unnötig viel Proviant oder Wasser tragen zu müssen. Es empfiehlt sich auch, für den Notfall stets eine eiserne Ration Nahrungsmittel mit möglichst hoher Kaloriendichte dabei zu haben. Das fällt nicht ins Gewicht, gibt aber Sicherheit. Ich habe eigentlich immer eine Dose Thunfisch, Cracker und Schokolade im Rucksack. Ebenso will der Wasserverbrauch gut geplant sein. Besonders in dünn besiedelten Gebieten, fiel es mir trotz Sichtung vieler Hydranten oft schwer, an Trinkwasser zu kommen. Glücklicherweise hat jeder noch so kleine Ort einen Friedhof, auf dem man seine Wasservorräte auffüllen kann.
Spätestens am frühen Nachmittag beginne ich, mich nach einem Schlafplatz umzusehen. Ich liebe es, wann immer es möglich ist, draußen zu schlafen. Pilgerherbergen bieten oft die Möglichkeit, auf ihrem Grundstück ein Zelt aufzustellen. Dafür nehmen sie in der Regel nicht mehr als 5 € und erlauben aber die Nutzung der Dusche und wenn man möchte, gegen Aufpreis ein Abendessen in Gemeinschaft. Eine Liste der Pilgerherbergen gibt es meist bei der zuständigen Jakobusgesellschaft oder in der örtlichen Touristeninformation. Natürlich muss es nicht unbedingt der Jakobsweg sein, wenn man wandern möchte. Mir sind Fernwanderer begegnet, die aus unterschiedlichsten Motiven unterwegs waren. Schulfreunde, die vor 20 Jahren auf ihrer Abschlussfeier beschlossen haben, jedes Jahr eine Woche zu wandern, um nach weiteren 20 Jahren auf diese Art in Ulan Bator anzukommen. Oder Moritz, der einsame Wanderer aus Norddeutschland, der nach einer Lebenskrise einen persönlichen und beruflichen Neustart in Bayern wagen wollte. Quasi als Ritual wollte er zu Fuß das verlassene mit dem neuen Heim verbinden, um so Schritt für Schritt das alte Leben hinter sich zu lassen während er gleichsam in das zukünftige eintritt.
Der Jakobsweg bietet mit seiner in großen Teilen erschlossenen Infrastruktur aber viele Vorteile. Wenn der Weg keine Herbergen bereithält und auch keine Pensionen oder Hotels zu finden sind, kann man in der Kirche oder im Gemeindehaus um Unterschlupf bitten. Die Gemeinden am Weg sind Pilger gewöhnt und helfen gern. Es macht durchaus Sinn, dafür einen Pilgerpass zu führen. Die in Kirchen und Touristeninformationen gesammelten Stempel ermöglichen neben dem vergünstigten Zugang zu Herbergen auch oft kostenlosen Zugang zu Sehenswürdigkeiten und Kultur. Die rund um den Weg entstandene Gemeinschaft steht als solche stets bereit. Wer Gesellschaft sucht, findet sie auf dem Weg. Wem die nicht gefällt, der macht einen Tag Pause und trifft am nächsten Tag auf andere Mitwanderer. Tipps und Tricks auf und rund um den Weg, finden sich in zahlreichen Facebook- oder Instagramgruppen. Egal welcher Weg es nun sein soll, mein unbedingter Rat ist: Nehmt Euch Zeit. Plant, ob Ihr drei oder fünf Wochen laufen wollt, aber macht Eure zeitlichen Pläne nicht an einem Zielort fest. Sonst verwandelt sich Euer Abenteuer von einem fernen Sehnsuchtsort in leistungsorientierten Alltag. Körper und Geist, Begegnungen und Kultur – alles braucht vor allem Zeit.
Und was die Pilger im Mittelalter anging, sie liefen auch zurück. Wenn alles gut ging, kamen sie danach nicht nur wieder wohlbehalten und mit vielen Geschichten zu Hause an, sondern auch ganz bei sich selbst.